Wann ist der Mensch gut? Vergleich – Richard D. Precht und Bertholt Brecht

Vergleichstext: https://www.derwesten.de/incoming/ist-richard-david-precht-ein-guter-mensch-id3809741.html

Richard David Precht ist ein deutscher Philosoph und Publizist, der der Öffentlichkeit vor allem durch Fernsehauftritte zu philosophischen Fragen und der Veröffentlichung von populärwissenschaftlichen Büchern bekannt ist. Im mir vorliegenden Text, der im Jahr 2010 in der Tageszeitung Der Westen erschienen ist, wird Precht von Britta Heidemann zu den Ergebnissen seines Buches „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ interviewt.

Der Autor geht davon aus, dass der Mensch von sich aus nicht egoistisch und eigensinnig, sondern viel mehr sozial und kooperativ veranlagt ist. So habe der Mensch nämlich immer in Horden gelebt und war nie als Einzelgänger, wie bei manchen Tierarten üblich, unterwegs, sodass er zu diesem „netten“ Verhalten gezwungen war, um mit der Horde leben zu können. (vgl. Z. 3-6). Außerdem strebe der Mensch nach Liebe, Anerkennung und Zuneigung und all dies sei etwas Gutes (vgl. Z. 8f.). Precht führt weiterhin aus, dass für den Einzelnen die Gruppenakzeptanz bedeutender als die ethische Maxime sei – Moralische Grundsätze seien also flexibel und nicht festgeschrieben (Z. 11ff.). Nachvollziehbar wird diese Aussage durch die Geschehnisse im Juli 1942, als „[…] die Männer [des Polizeibataillons 101], die keine Killer und zum allergrößten Teil keine überzeugten Antisemiten waren, an diesem Morgen vor die Aufgabe gestellt wurden, 1500 Frauen und Kinder zu ermorden – und dass der Kommandant ihnen die Chance gegeben hat, unsanktioniert aus dem Glied zu treten [und] sich nur zehn der 500 Männer nicht [beteiligten] (Z. 17ff.). Moralische Grundsätze seien zwar in nahezu allen Kulturen gleich („Fairness, Solidarität, Fürsorge, Wahrhaftigkeit, Loyalität“, Z. 30f.), jedoch dürfen diese nicht zu ernst genommen werden, wenn man ein guter Mensch sein wolle. Ein Mensch, der immer unvermittelt die manchmal ungeliebte Wahrheit sagt, wird schließlich schnell als unhöflich empfunden werden und vermutlich seine Freunde verlieren (vgl. Z. 34f.). Durch das kapitalistische System hierzulande bleiben oftmals Werte wie Wahrhaftigkeit und Anstand auf der Strecke, da jeder Beteiligte ständig an seine persönliche Gewinnoptimierung denken müsse – es bleibe also schlichtweg weder Platz noch Zeit für gutes Verhalten („Wenn jeder ständig überlegt, was ist mein optimaler Gewinn, dann bleiben langfristig Werte wie Wahrhaftigkeit und Anstand auf der Strecke“, Z. 40ff.). Um diesem Verhalten entgegenzuwirken appelliert Precht an nebst dem Bürger für mehr Bürgerbeteiligung auch an den Staat, hierbei als moralische Instanz in Form einer Kommission zu agieren und dort quasi ein normatives Verhalten festzulegen (vgl. Z. 43f.). Eine direkte Demokratie führe nämlich zu mehr Gerechtigkeit, da sich die Menschen nur für Politik, die sie direkt selbst mitbestimmen können, interessieren würden: Will ein kinderreiches Viertel den Autoverkehr verbieten, dann soll es auch die Möglichkeit dazu bekommen (vgl. Z 55ff.). Letztendlich fazitiert Precht, dass der Mensch sich nicht verändern würde, sondern die Umwelt auf ihn einwirken müsse. Schafft man also optimale Rahmenbedingungen, wird der Mensch automatisch mehr Gutes tun (vgl. Z.69).

Die Argumentationsweise von Richard David Precht empfinde ich als sehr schlüssig und sinnvoll aufgebaut. Er benutzt einige Faktenargumente (z.B. Z. 3-6) und untermauert viele Thesen mit eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen (z.B. Z. 32f.). Bedauerlicherweise lässt er keine weiteren akzeptierten Autoritäten einfließen und benutzt somit nicht ein einziges Autoritätsargument, auch wenn es sich dies bei der Thematik angeboten hätte, da bereits viele bekannte Philosophen Überlegungen zum menschlichen Wesen anstellten. Nichtsdestotrotz sind seine Gedanken gut durchdacht und für Jedermann verständlich dargestellt – keineswegs eine Selbstverständlichkeit bei philosophischen Überlegungen.

In Bertolt Brechts Drama „Der gute Mensch von Sezuan“, welches er im Wesentlichen im Exil von 1939 bis 1941 verfasste, besuchen die Götter die Provinz Sezuan um anfangs die guten Menschen und schlussendlich den einen guten Menschen auf Erden zu finden. Er verarbeitete in Parabelform, also einer lehrhaften Erzählung über einen Sachverhalt, die Erfahrungen der wirtschaftlichen Not in der Weimarer Republik und behandelt die Frage nach der Herkunft und Rechtfertigung des Bösen. In Brechts Überlegungen können viele Parallelen zu den von Precht vorgetragenen Gedanken gefunden werden. So thematisiert Brecht in seinem Stück die Unmöglichkeit, in kapitalistischen Verhältnissen ein guter Mensch zu bleiben und kritisiert die Erfindung der Massenproduktion, die jede gute Tat eines Menschen verhindert. Deutlich wird dies im „Lied vom achten Elefanten“ (S. 116f.), welches von den Arbeitern in Shui Tas Tabakfabrik gesungen wird und die Lage der Arbeiter im Bild der sieben Arbeitselefanten darstellt. Sie haben einen Wald zu roden und werden vom achten Elefanten, der den Eigentümer Herr Dschin trägt, rigoros und rücksichtslos angetrieben. Der achte Elefant hat als einziger einen Zahn, den er als Waffe gegen die restlichen Elefanten einsetzen kann wodurch er sich in einer Machtposition befindet und den Aufstand der sieben Elefanten problemlos unterdrücken kann. Das Lied ist als Parabel auf die Wirtschaftsordnung im kapitalistischen System zu verstehen und übt deutliche Kritik an dieser ausbeuterischen Arbeit. Außerdem zeigt Brecht anhand von Shen Te, dass den Wohltätern ihre guten Taten meist nicht gedankt werden: Als sie täglich mehrere Schüsseln Reis an die Armen ausgibt, bleibt dies ungedankt und führt sogar noch zu beschweren. Ihr Alter Ego Shui Ta folgert daher: „Gute Taten, das bedeutet Ruin!“ (10. Akt, S. 137f.), man beutet sich auf Dauer also nur selbst aus. Die Nutznießer ihrer Gutmütigkeit stürzen sich förmlich auf den Reis ohne zu bedenken, dass Shen Tes Ruin bedeuten würde, dass auch sie von keinen Wohltaten mehr profitieren können. Die Armen sind also so sehr mit den Folgen ihrer Armut beschäftigt und dabei so von Neid und Missgunst zerfressen, dass es ihnen nicht gelingt, rational zu agieren. Im Gegensatz dazu ist ihr Vetter hingegen unbeliebt, aber durch seine strikte Art allseits respektiert. Brecht scheint sagen zu wollen, dass die Armen arm bleiben und weiterhin auf gute Menschen hoffen müssen, die man dann aber genau so behandeln wird wie die gutherzige Shen Te („Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“, (vgl. Epilog). Es ist also ein Teufelskreis, aus dem man nur schwer ausbrechen kann und die Armen wählen ihr Schicksal letztendlich selbst – sie verbleiben im Elend. Weiterhin wirft die altruistisch veranlagte Shen Te viele Fragen in Bezug auf den guten Menschen auf: Ist sie aufgrund ihrer gelebten Offenheit, ihrem Glauben, ihrer Geduld, Treue und Hoffnung der von den Göttern gesuchte gute Mensch von Sezuan? Auch hier gibt das Drama keine eindeutigen Antworten und überlässt letztendlich dem Leser die Entscheidung. In einem Zwischenspiel liest Wang den Göttern aus einem imaginären buch das Gleichnis vom „Leiden der Brauchbarkeit“ vor, welches am Beispiel von Bäumen zeigt, dass alles, was sich als gut, nützlich und brauchbar erweist, schnell seiner Verwendung und das heißt seiner Vernichtung zugeführt wird: Die brauchbaren Bäume werden abgesägt noch bevor sie ausgewachsen sind während die unnützen alle Chancen haben, verschont zu bleiben. Wang fügt an, dass es den Menschen genau so gehe: Der Schlechteste und Unbrauchbarste sei demnach der Glücklichste und Shen Te sei in ihrer Liebe gescheitert, weil sie die Gebote der Nächstenliebe befolgte (vgl. Zwischenspiel, S.94). Die Götter widersprechen Wangs Deutung ebenso wie seiner Bitte nach Hilfe für Shen Te, da sie nur als Betrachtende auf der Erde seien. Sie sind der Ansicht, dass Leid läutert und die Kraft eines guten Menschen mit seiner Bürde wächst (vgl. Zwischenspiel, S.95).

Außerdem deutet auch Brecht an, dass die Verhältnisse, in denen der Mensch lebt, entscheidend für seine Wohltaten ist. Erst wenn er sich in einer Lage befindet, in der er sich nicht täglich mit dem Überleben beschäftigen muss, hat er Kraft und Willen, gute Taten zu vollbringen. So ist der Wasserverkäufer Wang aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation dazu gezwungen, mit einem Doppelboden im Wasserbecher zu betrügen. Dies macht er jedoch nicht aus Bösartigkeit, sondern nur zu dem Zweck, sein Überleben zu sichern. Den Göttern folgend ist jedoch eine schlechte Tat bereits ausreichend, um ein schlechter Mensch zu sein (Vorspiel, S.13). Der reiche Barbier ist jedoch wirtschaftlich unabhängig und kann deshalb gute Taten vollbringen: Es wird also deutlich, dass nur derjenige Gutes tun kann, der keine Existenzängste hat.

Weiterhin geht auch Bertolt Brecht von einem Menschen aus, der grundsätzlich gewillt ist Gutes zu tun, wenn es die Umstände erlauben. Diesen Gedanken macht er in seinem Drama „Der gute Mensch von Sezuan“ genau so wie in anderen Werken deutlich („Der Mensch ist gut, aber die Verhältnisse erlauben es nicht“, Werk: Dreigroschenoper).

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Precht und Brecht nicht nur nahezu gleiche Nachnamen, sondern auch nahezu gleiche Ansichten haben, wie dem Mensch ein Gutsein ermöglicht wird. Beide betonen, dass vor allem das Umfeld, in dem ein Mensch lebt entscheidend für seine möglichen Wohltaten ist und man hier ansetzen muss, wenn man einen Menschen verändern möchte.